Von Dag Schölper
„Wenn man eine vorherrschende Wahrheit ans Licht holt, was ja der Sinn und Zweck einer Selbsterzählung ist, mit der
man sich seiner eige-nen Kontinuität vergewissern will, fehlt immer et-was Entscheidendes: Die Tatsache, dass man in
dem Moment, wo man etwas erlebt, nicht versteht, was man da gerade erlebt…“ (Annie Ernaux)
„…bleibt jedoch die Tatsache, dass die Kindheit eine zwangsläufige Abhängigkeit darstellt, die wir niemals vollständig
hinter uns lassen. Die Körper müssen nach wie vor als ausgeliefert verstanden werden.“ (Judith Butler)
Im Oktober 2018 wurde Graciano Rocchigiani auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof beerdigt. ‚Rocky‘ war in den 1990ern ein bekannter Boxer.
Die Meldung von der Bei-setzung berührte mich. Ich hatte lange nichts mehr von Rocchigiani mitbekommen. Aber ich weiß noch, dass ich als
jugendlicher Fernsehzuschauer von seiner heiseren Stimme und rüden Art befremdet und zugleich fasziniert war. Er repräsentierte „Milieu“
und stand auf seine Weise für Überlebenskampf.
Der Friedhof liegt in Berlin-Schöneberg, auf der sogenannten Roten Insel, zwischen Großgörschen- und Monumentenstraße – früher mal
Arbeitergegend. Rocchigiani hat hier in den 1980ern gelebt. Ab Sommer 1983 lief ich an der Friedhofsmauer entlang täglich zur Schule. Mit
dem Weg verbinde ich einerseits Süßigkeiten für ein paar Pfennige aus dem Tante-Emma-Laden. Andererseits erinnere ich mich deutlich an
das Gefühl, wieder einmal von hinten am schweren Schulranzen zu Boden gerissen zu werden, ans schmerzende Steißbein und die von
höhnischem Gelächter begleite-ten Tritte der größeren Jungs.
Ein Kämpfer wie Rocchigiani war ich nie – höchstens in meiner Fantasie, allein vor dem Badezimmerspiegel. Ungelenke Jabs in die Luft
schlagend, stellte ich mir vor, Rocky ‚The Italian Stallion‘ Balboa oder Muhammad Ali zu sein und nicht der etwas zu große, zu weiße, zu
weiche Junge westdeutscher Eltern aus der neuen Mittelschicht, ohne Geschwister – privilegiert – im zunehmend migrantischen
Arbeitermilieu.
Nach Schulschluss behielt mich meine Lehrerin öfter noch bei sich, damit die Jungs, die man im Englischen als ‚bully‘ bezeichnen würde,
schon weg wären. Das klappte aber nicht. Im Gegenteil, dann warteten sie eben in irgendeinem Hauseingang auf mich. Und die schützende
Masse der Mitschüler war dann schon fort. Zu Hause fragte mich meine besorgte Mutter, was denn los sei. Meistens schwieg ich. Manchmal
weinte ich. Du musst Dich wehren, Junge! sagte sie oft.
Einmal kam ich mit Würgemalen am Hals heim, die mir ein Junge aus der ‚Integrati-onsklasse‘ – die treffender ‚Separationsklasse‘ hätte
heißen müssen – während der Pause verpasst hatte. Daraufhin suchte meine Mutter das Gespräch mit meiner Leh-rerin. Die Situation
besserte sich danach etwas. Nun mussten die Drangsalierer nach Schulschluss länger bleiben, sodass ich schnell nach Hause konnte. Mein
Image und mein Hinweg zur Schule wurden dadurch nicht eben besser.
Kinderkram! So dachte ich lange. Richtig Schlimmes ist mir ja auch tatsächlich nicht passiert. Normalität männlicher Sozialisation? So frage
ich mich heute. Im Rückblick erscheint mir die Welt, in der ich als Junge und männlicher Jugendlicher im Kalten Frieden West-Berlins
aufwuchs, von alltäglicher Brutalität und Gewalt und von verlo-renen Kämpfen durchzogen, so wie die Stadt, in der ich lebte, von einer
Mauer.
Ich erinnere mich, dass es immer wieder Prügeleien auf der Straße gab. – Da war der alte Meckermann aus dem Haus schräg gegenüber, der
uns Kinder im Vorbeigehen mit seinem Gehstock schlug. – Eltern verpassten ihren ‚ungezogenen‘ Kindern ganz selbstverständlich in aller
Öffentlichkeit Ohrfeigen oder einen Arschvoll. – Die inner-familiäre Gewalt in der unmittelbaren Nachbarschaft galt als
‚Familienangelegenheit‘, in die sich niemand einzumischen hatte. – Einmal lag wochenlang ein fieser Gestank in unserem Treppenhaus. Bis
sich klärte, dass es Verwesungsgeruch war. Auf dem Dachboden hatte sich einer aufgeknüpft. – Auf unserem Spielplatz hatten wir einen
Stammsäufer, der uns Kinder ständig lallend anpöbelte. Eines Tages legte er sich wieder einmal im Schatten des Klettergerüstes zum
Schlafen in den Sand. Es war Sommer. Diesmal wachte er nicht mehr auf. Sein Kampf war zu Ende. Wir brauchten keine Angst mehr vor ihm zu
haben. – Eines Tages zog ein junger Mann neu in unse-re Straße. Er hatte dunkle Haut. Die großen Brüder meiner türkischen Kumpels legten
ihm zertretene ‚Negerküsse‘ vor die Tür und jagten ihm hinterher, sobald er sich sehen ließ.
1988 wurde Rocchigiani Weltmeister im Supermittelgewicht – und ich elf Jahre alt. Nachdem ich wieder mal was auf die Fresse bekommen
hatte, sprayte ich „Türken raus!“ an die Spielplatzmauer. Ich kaufte mir ein Butterfly-Messer mit Schlangengra-vur. Beängstigend, dass es mir
tatsächlich verkauft wurde! Damit lief ich eine Zeit lang ständig durch die Gegend. Augenblicke symbolischer Stärke. Unterbrechung ei-ner
permanenten Furcht.
In der Zeit um den Mauerfall war ich dauernd in Sorge, Mitgliedern aus Gangs wie den 36 Boys oder den Black Panthers über den Weg zu
laufen, hatte Angst davor, im Bus oder in der Bahn ‚abgezogen‘ zu werden: Schuhe, Jacke, Basecap, Walkman. – An-fang der 1990er nähte ich
mir ein Anarchie-A auf den Ärmel meiner Jeansjacke. Im Nachwende-Berlin gab es dafür ironischerweise Tritte in der U-Bahn von Jungs, die
dachten, das Ⓐ hieße „Ausländer raus“. Aber es führte auch ganz unironisch dazu, dass ich auf einer Konfirmandenfreizeit am Stadtrand von
mit Schlagring und Tonfa bewaffneten Neonazis auf Mountain Bikes verfolgt wurde. Es ging glimpflich für mich aus. Meine Eltern sagten dazu
lapidar: „Kleider machen Politik“.
Mit alledem klar zu kommen, hieß von früh auf Blicke, Mimik, Körpersprache und Be-kleidungscodes beherrschen zu müssen, um keinesfalls
zu provozieren, immer auf der Suche nach dem schmalen Grat zwischen Unauffälligkeit und Unangreifbarkeit. Bus und Bahn zu fahren oder
alleine durch die Straßen zu laufen, bedeutete für mich, bis ins Jugendalter hinein, stets achtsam zu sein.
Obwohl die beschriebenen Geschehnisse lange zurückliegen, bleibt dieses Wissen in meinen Körper eingeschrieben. Ich reagiere noch immer
unmittelbar mit Habachtstel-lung auf bestimmte körpersprachliche Signale, auf Männergruppen, auf offene Ag-gressivität. Erst jetzt, mit dem
Niederschrieben wird mir klar, dass ich bis heute mit diesen Erfahrungen ringe, die der Junge machen musste, aus dem mein heutiges Ich
geworden ist. Es war und ist ein permanenter Kampf gegen düstere Schatten.
Rocchigiani war nach der 9. Klasse von der Schule abgegangen und wurde Profibo-xer. Mein Weg verlief gänzlich anders. Meine Eltern
entschieden, dass ich zur 5. Klasse die Grundschule wechselte. Also sollte ich Französisch und nicht Englisch als erste Fremdsprache lernen,
weil der Schulwechsel sonst nicht möglich gewesen wä-re. Meine Lebenswirklichkeit wandelte sich allmählich. Aber ich gab auch weiter, was
ich bisher gelernt hatte: Ich machte einen freundlichen, Brille tragenden Mitschüler zum Opfer meines Mobbings und meiner Schläge. Mir ist
das gemischte Gefühl der genossenen Überlegenheit und der gleichzeitig empfunden Scham und Leere noch immer präsent.
Nachdem unser Nachbarhaus Anfang der 1990er zwei Mal in Flammen stand und es zu Messerstechereien im Kiez gekommen war,
beschlossen meine Eltern die Rote Insel zu verlassen und in ein bürgerlicheres Viertel umzuziehen. Das war ein harter Schnitt für mich. Die
Umwelt, in der ich nun lebte, unterschied sich grundlegend, ob-wohl zwischen hier und dort nur wenige Kilometer Luftlinie lagen. Ich fühlte
mich entwurzelt und wurde krank.
1996 kämpfte Rocchigiani gegen Dariusz Michalczewski um die WBO-Weltmeisterschaft im Halbschwergewicht. Ich machte zur gleichen Zeit
mein Abitur und suchte mir eine Zivildienststelle an der schleswig-holsteinischen Ostsee. An-schließend studierte ich wieder in Berlin
Politikwissenschaft, mit dem naiven Ziel die Welt zu verbessern. Ich las und diskutierte viel feministische Theorie. Ich engagierte mich auf
Anraten eines Professors im „Forum Männer für Theorie und Praxis der Ge-schlechterverhältnisse“ und im „Arbeitskreis kritische
Männerforschung“.
2003 beendete Rocchigiani seine aktive Boxerlaufbahn. Ich konnte dank meiner Eltern schließlich sogar promovieren und wurde letztlich
gleichstellungspolitischer Funktionär im Bundesforum Männer – Interessenverband für Jungen, Männer & Väter. Mit meiner
männerpolitischen Arbeit kämpfe ich noch immer dafür, die Welt zu ver-bessern. Ich will gesellschaftliche Strukturen verändern, damit es
nicht vom Elternhaus und der sozialen Lage abhängt, dass möglichst alle Jungen und Männer unter anderen, weniger gewaltvollen
gesellschaftlichen Bedingungen Junge sein und Mann werden können – wie ich hoffe, kein Kampf gegen Windmühlen.
Der Autor ist Geschäftsführer des Bundesforum Männer – Interessenverband für Jungen, Männer & Väter e. V.
Wie Mann wird was man ist.
Autobiographische Notizen
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