Gefängnispredigtgeschichte von Vincent B. und Pfr. Dr. Andreas Leipold zu Kol.4,5
„Macht das Beste aus der Zeit“
Von Weitem höre ich schon das tosende Geräusch tausender Liter Wasser, die in die
Tiefe stürzen. Weit kann es also nicht mehr sein bis zum Wasserfall. Voller
Vorfreude beschleunige ich meine Schritte und folge dem Waldweg, der direkt
neben einem wunderschönen Bachlauf verläuft. Der Bach hat sich seinen eigenen
Weg durch den Wald gesucht und schlängelt sich elegant zwischen den Felsen
hindurch. Nach einigen Biegungen stehe ich plötzlich vor ihm. Mächtig, laut und in
einer riesigen Dunstwolke stürzt das Wasser aus enormer Höhe in einen kleinen
See.
Dort angekommen lege ich unter enormer Erleichterung den schweren
Wanderrucksack ab. Sich hier zu unterhalten ist aufgrund der Lautstärke des
Wasserfalls kaum möglich. Aber wir brauchen ohnehin kein Wort zu wechseln. Wie
als hätten wir den gleichen Gedanken in derselben Sekunde gehabt, ziehen wir uns
aus und stürzen uns ins tosende Wasser. Das Wasser ist kälter als gedacht, aber
nach der anstrengenden Wanderung tut die Abkühlung unglaublich gut. Da wir
beide kein Handtuch dabeihaben, legen wir uns – wie Gott uns schuf – ins Gras und
lassen uns von der Mittagssonne trocknen.
Wie ich da so liege, dem Tosen des Wasser lausche und in die Baumwipfel hinauf
schaue, überkommt mich das Gefühl, auf das ich seit zwei Tagen gewartet habe.
Dieses Gefühl, welches mich immer dazu treibt, meine Ferien in der Wildnis auf
Wanderschaft zu verbringen. Oft dauert es ein oder zwei Tage, bis ich den Stress
des Alltags hinter mir lassen kann. So auch dieses Mal. Die letzten zwei Tage habe
ich oft noch an all die Dinge gedacht, die ich erledigen muss, wenn ich zurück bin.
Für die Uni lernen, mein Fahrrad reparieren und so vieles mehr. Das hat mich
unbewusst sehr gestresst und ich war nicht wirklich im Hier und Jetzt. Endlich stellt
sich mein Geist um. Das Gefühl strömt durch meinen ganzen Körper, so dass ich zu
grinsen anfange.
Und plötzlich habe ich das Gefühl, dass mein Geist in einer Art von Gebet ist. Ich
spreche innerlich aus, was mich bewegt. Meine Dankbarkeit, aber auch meine
Sorgen, wenn ich in die Zukunft schaue. Ein Jahr der Pandemie und der Inhaftierung
liegt hinter mir. Viele Einschränkungen, Angst vor der Intensivstation. Jede und
jeden kann es treffen. Auch sportliche Typen wie mich. Für mich ist Gott eine Kraft,
die mitgeht und stabilisiert auch in der jetzigen Krise. Ein Gott, der mit mir
unterwegs ist. Diese Hoffnung erfüllt mein Leben. Christsein ist eine hoffnungsvolle
Haltung trotz Krankenhaus oder Gefängnis. Auch im Sommerurlaub, den ich so sehr
herbeigesehnt hatte. Im Kolosserbrief heißt es: „Lasst nicht nach im Beten; seid
dabei wachsam und dankbar! Betet auch für uns, damit Gott uns eine Tür öffnet für
das Wort und wir vom Geheimnis Christi sprechen können, um dessentwillen ich im
Gefängnis bin, .seid weise im Umgang mit Außenstehenden, nutzt die Zeit!“
(Einheitsübersetzung Kolosser 4,2ff.) Auf einen Gott, der mit mir unterwegs ist,
hoffe ich auch außerhalb des Sommerurlaubs. Mit diesem Gott zu leben, gehört für
mich dazu. Ein Gott, der mir wieder mehr Freiheit schenken möge und das
möglichst bald.
Vor einiger Zeit habe ich eine tolle Aufführung von „Der Club der toten Dichter“
gesehen. Darin kommt der Schüler Todd Anderson zu Beginn des Schuljahres 1959
an die traditionsbewusste Welton Academy, ein konservatives Internat für Jungen
im US-Bundesstaat Vermont. Der schüchterne in sich gekehrte Tod besitzt wenig
Selbstvertrauen und steht im Schatten seines älteren Bruders, der einer der besten
Absolventen der Schule war.
Ebenfalls neu an der Schule ist der Englischlehrer John Keating , gespielt im Film
von Robin Williams, selbst einst Schüler des Internats. Mit unkonventionellen
Methoden fordert der Lehrer die Schüler zu selbständigem Handeln und freien
Denken auf. Er ermuntert die Schüler, jeden Tag ihres kurzen und vergänglichen
Lebens im Sinne des Horazischen Dictums „Carpe diem“, also: „Nutze den Tag“ zu
verleben.
Der Schüler Todd ist derjenige, der von allen Keatings Unterrichtsziel am meisten
verinnerlicht. Er steht als einziger Schüler zu seinem Lehrer, als dieser mithilfe
einer Intrige von der Schule entfernt werden soll. Und er widersteht seinem Vater,
als dieser ihm das Theaterspielen verbieten will, und entscheidet sich lieber für den
Suizid als seinen Idealen untreu zu werden.
Das Gefühl frei zu sein ist für mich ganz wichtig. Tun und lassen zu können, was ich
will. Keine Verpflichtungen, kein gesellschaftlicher Druck: ich kann hier einfach
komplett nackt daliegen, und das, solange ich es will.
Nach dieser Pause wandern wir weiter. Der Wald lichtet sich allmählich und es geht
bergauf. Wir folgen dem Bachlauf, der sich über viele kleine Wasserfälle durch diese
wunderschöne Landschaft schlängelt. Die Natur strotzt vor Kraft und Energie, alles
ist in ein sattes Grün getaucht. Je weiter wir den Hügel erklimmen, desto ruhiger
wird es. Der Bach ist nur ein leichtes Plätschern im Hintergrund. Um uns herum tut
sich eine malerische Kulisse auf. Der Weg ist gesäumt von blühendem Ginster und
Heidekraut. Ich höre den Balzgesang der Birkhähne, die mit ihren roten
Augenbrauen und weißen Federschmuck einen eleganten Tanz aufführen und um
die Gunst der Birkhühner werben.
Oben angekommen tut sich die atemberaubende Weite der schottischen Highlands
vor mir auf. So weit das Auge reicht, liegt ein Hügel hinter dem anderen. Alle sind
von saftigem, grünen Gras überwachsen, kein Baum, kein Fels, nur Hügel und
grünes Gras bis zum Horizont. Die Schönheit der Landschaft lässt mich laut
auflachen. Ich breite die Arme aus und atme die frische Luft ein. Die Luft riecht
nach Freiheit, sie schmeckt nach Freiheit. Mit dem Blick in die Ferne gerichtet wird
mir bewusst, wie frei ich in diesem Moment bin.
Voller Sehnsucht und Bedauern wende ich meinen Blick von dem Foto ab. Das Foto,
welches ich auf eben diesem Hügel in den Highlands geschossen habe und welches
jetzt an meiner grauen Zellenwand hängt.
Amen.